Die Ausstellung "WANDLUNGEN" war bis 12.07.2020 zu sehen.
Die Bilder von Ute Heuer verblieben bis zum Ende des Kirchenjahres 2020 im Altarraum.
Die Bilder von Ute Heuer verblieben bis zum Ende des Kirchenjahres 2020 im Altarraum.
Kommentar zur Ausstellung von Dr. Annegret Kehrbaum (Kuratorin):
Die Ausstellung WANDLUNGEN kreist um zwei Ur-Phänomene des Lebens: Raum und Wahrnehmung. Die Bildräume, die die Malerin Ute Heuer mit Tusche und Farbe aufspannt, und die aus Holz geformten skulpturalen Raumkörper der Bildhauerin Helga Weihs stellen inmitten der komplexen Raumvielfalt des Kirchenraums für die Dauer der Ausstellung zwei besondere Arten von Raum dar: Materiell gebunden gestaltet und zugleich fiktional ins Gedankliche strebend. Für uns sind sie Anlass, uns mit dem Phänomen des Räumlichen und seinen Strukturen intensiver auseinanderzusetzen.
Die Bildhauerin Helga Weihs hat sich auf den Werkstoff Holz in technisch perfekter Verarbeitung spezialisiert und verfolgt mit dieser Technik ein strenges Minimal-Prinzip geometrisch-konstruktiver Kunst. Ihre modular konzipierten Holz-Raum-Körper vertreten die klassische Position der konkreten Kunst: Das Material, die Form, die Farbigkeit (hier meistens: die dezenten Farbkontraste der Holzsorten, gelegentlich farbige Akzente mittels anderer Materialien) stehen für sich selbst.
Rebuild Wandlungen 2020
Um die Arbeiten von Helga Weihs zu erleben, muss man sich selbst bewegen. Man erfährt dann mit dem ganzen Körper die Leichtigkeit, die die Streifung dem Auge suggeriert, und eine irisierende Flimmerwirkung („Moirée-Effekt“) durch optische Überlagerungen im Fall der Holzanordnungen mit Leerraum. Dieser Effekt ist in der Markuskirche besonders in der Arbeit „REBUILD WANDLUNG 2020“ zu sehen, die im vorderen Kirchenschiff, einem anlandenden Schiff nicht unähnlich, den Raum vor der Kanzel einschließlich der drei Stufen zum Chorraum einnimmt. Helga Weihs hat diese über sieben Meter lange Skulptur aus einem vorher bestimmten Materialkontext heraus explizit für den Raum der Markuskirche gebaut. Es lohnt sich, diese Großskulptur und auch die vier anderen Arbeiten von Helga Weihs, die im Kirchenschiff verteilt sind, mit Zeit und Ruhe aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten, sich nach dem Umherschreiten vielleicht dafür einen Stuhl zurecht zu rücken und die Materialität und die Räumlichkeit der von Helga Weihs in konstruktive Kunstwerken verwandelte Hölzern zu genießen.
Die ins Werk eingearbeitete Auseinandersetzung mit dem Raum verbindet die Skulpturen von Helga Weihs mit den Gemälden von Ute Heuer. Beiden Künstlerinnen geht es dabei um Aspekte wie Licht, Materialität, Serialität, um inhärente Modulmaße und das Moment der Bewegung. Beide Künstlerinnen nutzen visuelle Phänomene, wenn sie unsere von Natur aus nach Mustern und Standards Ausschau haltenden Augen dazu verführen, etwas anders zu sehen, als es tatsächlich ist. Und sie haben beide, jede auf ihre Weise, Asien (Japan und China) als künstlerische und geistige Inspirationsquelle erlebt. Ihre Werke machen all dies erfahrbar, jedoch auf unterschiedliche Weise.
Farbfeld Markuskirche
Ute Heuer untersucht seit vielen Jahren in malender Tätigkeit Farbe auf ihre verschiedenen Eigenschaften: Farbtiefe, Farbmischung, Kontrastwirkungen und daraus resultierende Raum- und Bewegungseffekte. Schon seit 2014 hängt oben im Kirchenschiff der Markuskirche ihre große Arbeit „Farbfeld_Markuskirche“. Auf einer Fläche von 260 mal 260 cm sind hier 32 Leinwände zusammengefügt, die die Künstlerin in noch malfeuchtem Zustand in einer langen Reihe auf dem Boden ausgelegt hatte. Mit einem einzigen, langsamen Pinselstrich („one stroke“), ausgeführt mit einem extra breiten Spezialpinsel, fuhr sie über alle Leinwände hinweg und verwischte damit die Farben so, dass sie sich ab der zweiten Leinwand in den oberen Schichten teilweise vermischten. Die letzte Leinwand enthält – zumindest theoretisch – die Summe aller Farben. Im Resultat ergibt dieses Verfahren ein irisierendes Farbenspiel von (farb-)räumlicher Tiefe, außerdem eine quasi natürliche Harmonisierung der Farben.
Gekrümmter Raum
Im Chorraum werden wir mit der Werkserie „Gekrümmter Raum“ Zeugen der neuen Experimente von Ute Heuer mit achromatischen Farb-Raum-Transpositionen. In fünf schmalen, langen Kassettierungen des Frieses in der polygonalen Apsis des Altarraums sehen wir einen vor den Wänden schwebenden „Leinwand-Fries“, der den Eindruck einer graustufigen, von dynamischen Verdichtungen und Verformungen durchwirkten Weichheit vermittelt. Der homogene Zusammenhalt der Gesamtkomposition, ausgeführt in chinesischer Tusche, beruht auf ihrer beschränkten Farbigkeit (ein Hell-Dunkel aus Grautönen mit Schwarz und Weiß als raumbildenden Kraftpolen) und auf der Einfachheit der Basisstrukturen, Punkte, Ovale oder Kreise, die durch Faltungen und Windungen in räumlichem Hell-Dunkel-Effekt (Trompe l´oeil) auf rätselhafte Weise in eine räumliche Bewegung hineingezogen werden.
Ute Heuer hat beim Malen der fünf über drei Meter langen Leinwände an den Kosmos und an die Weiten des Weltalls gedacht. Alles ist ein ständiger Prozess in Kreisläufen, alles, was existiert, besteht aus Bewegung, Energie, Chaos und strukturellen Verdichtungen. Im Angesicht des unendlichen Kosmos besitzt der Mensch allenfalls ein „kleines Spatzenhirn, das denkend nur an der Oberfläche der kosmischen Zusammenhänge des Universums und allen Seins zu kratzen vermag“, so sagt es die Künstlerin. Ihre Leinwandfolge beschreibt – von links nach rechts betrachtet – verschiedene Zustände des kosmischen Seins: „Ursuppe - Verwirbelungen in der Ursuppe - Atmen und Pulsieren - Verwerfungen und Verdichtungen - Verdrillen, es gestaltet sich etwas.“ Ein optisch wirkungsvoll inszenierter Konzentrationspunkt der Komposition ist eine kreisförmige Bewegung auf hellem Grund (links neben dem Kruzifix), bei der Künstlerin an die mächtige Sogwirkung eines Schwarzen Lochs dachte. Die Darstellung bietet dem Betrachter allerdings keine Lösung an, sondern es entstehen Fragen. Ist es ein Strudel der Verwirrung, oder eine Art „Auslass“ ins Nichts?
Während also bei den Skulpturen von Helga Weihs das Material und der Raum für sich selbst sprechen und Wirkung, nicht aber ihre Herstellung im Vordergrund steht, wählt Ute Heuer in ihren abstrakten Gemälden eine vom Menschen ausgehende, prozesshafte Perspektive. Dies geschieht, indem sie den Malprozess (und damit eine Zeitdimension) erkennbar werden lässt, Zufälliges zulässt und über die Existenz des Menschen inmitten des Kosmos nachdenkt. Damit begegnen uns im weiten Raum der Markuskirche zwei unterschiedliche Positionen: Regelhaftigkeit und die Befreiung von Regeln bilden als spannungsvolles Grenzgebiet den Kristallisationspunkt des künstlerischen Interesses von Helga Weihs. Ute Heuer hingegen sieht sich und ihre Kunst „als gewordenes Produkt unterschiedlichster gesellschaftlicher, geschichtlicher und geistiger Systeme“ (Lienhard von Monkiewitsch) und gibt dies in ihren abstrakten Gemälden auch zu erkennen.
Fotos: Andre Germar, Hannover
Helga Weihs (*1952 in Schwalefeld/Waldeck) studierte ab 1980 Grafik-Design an der FH Dortmund, nachdem sie zunächst als Patronen- und Musterzeichnerin in Wuppertal ausgebildet worden war. Noch während des Grafik-Design Studiums nahm sie 1983 ein Studium der Freien Kunst in Köln bei Pravoslav Sovak und ab 1985 das Studium der Fotografie und des Films in Dortmund bei Claudia von Alemann auf, die sie beide 1989 abschloss. Seit 1990 arbeitet Helga Weihs als Bildhauerin in Köln, wo sie bis heute lebt. Auslandsaufenthalte führten sie nach Shenzhen, Peking, Tel Aviv, Bethlehem, Kanazawa, Kyoto und Budapest.
Ute Heuer (*1964 in Braunschweig) studierte von 1983-90 an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig (HBK) bei Lienhard von Monkiewitsch, Giso Westing und Roland Dörfler. 1988 erwarb sie das Diplom der Freien Kunst, ein DAAD-Auslandsstipendium für London folgte. 1990 Meisterschülerin der HBKB. Es folgten viele Einzel- und Gruppenausstellungen im In- und Ausland. Sie erhielt zahlreiche Preise und Stipendien, darunter den Kunstpreis der Orangerie Darmstadt, das Barkenhoff-Stipendium, Worpswede; die Atelierförderung des Landes Niedersachsen etc. Seit 2011 ist sie Professorin für Malerei an der Hochschule Hannover.
Für Ihren Gang durch die Ausstellung Wandlungen
empfehlen wir Ihnen:
Teilen Sie uns gern Ihre Eindrücke mit:
info@markuskirche-hannover.de
Bertram Sauppe